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Postpandemische Normalität: Zurück, wohin?

Der allseits angestrebte Schutz vor pandemischer Verletzbarkeit heißt: Immunität. Man könnte diese Zielperspektive im Sinne des weitgehenden Schutzes vor schweren virologisch bedingten Krankheitsverläufen geradezu als den passageren, also aus akutem Anlass gebotenen und - so ist die Hoffnung - vorübergehenden Gesellschaftsvertrag bezeichnen, dessen individuelle Signatur mehrfach Gestalt annimmt, besonders aber durch die Maske und den Abstand.  Nicht Nähe, sondern Distanz offenbart die einvernehmliche Praxis von Solidarität, nicht offenes Visier, sondern das verdeckte Halbgesicht in FFP 2-Format eröffnet paradoxerweise das Bemühen um eine Vision: Eine virologisch geschützte Gemeinschaft, an der durch Schließung von Einzelhandel, Kitas und Schulen ebenso gearbeitet wird, wie durch das Anraten der Individuen sich überwiegend in ihrer häuslichen Parzelle aufzuhalten. Die sachliche Verbindung dieser solidarischen Wegstrecke von Gemeinschaft und Immunität verweist auch auf ihre etymologische Verwandtschaft: Das lateinische Wort „munus“ bezeichnete nach römischem Recht die Steuer oder Abgabe, die von jenen entrichtet werden musste, die zur Gemeinschaft der „cum munus“, der späterhin als Community bezeichneten Gruppe der Solidargemeinschaft gehörten. Davon zu unterscheiden war das Privileg der immunitas, also der Immunität im Sinne eines von Abgaben und Verpflichtungen entbundenen Lebens. Auf dem untersten Listenplatz der gesellschaftlichen Hierarchie standen hingegen diejenigen, die im Französischen als démuni, also mittellos und beraubt bezeichnet wurden. 

 

Die aus der Rechtssphäre entlehnte und in die medizinischen Sprache eingepflegte Bedeutung der Immunität meint nun den denkbar größten Schutz der Gemeinschaft aller, einen durch Ansteckung bedingten Preis zahlen zu müssen, insbesondere den des eigenen Lebens. Auf dem Weg dorthin gibt es jene, die sich virologisch verletzbarer machen. Dieses Prinzip hat schon zu Pestzeiten eine ungleich dramatischere Variante erfahren. Damals, so Foucault, waren es die „Raben“, Menschen von „geringem Wert“, die die Kranken zu tragen und „die Toten zu bestatten“ hatten. Nur begrenzt vergleichbar gilt das auch heute: Es ist die Kassiererin beim Rewe, es sind Ordnungskräfte und Handwerker*innen ebenso wie die Berufsträger*innen im Gesundheitssektor oder im pädagogischen Bereich. Nicht wenige haben das pandemische Nachsehen: In die Arbeitslosigkeit katapultiert, in ihrer unternehmerischen Existenz vernichtet, seit Monaten in Kurzarbeit oder schlichtweg auf kleinstem Raum von 60 qm mit vier Personen bei School Fox und Homeoffice am Rande des familial Verträglichen. Andere können sich nicht durch den Rückzug in die eigene Wohnung schützen. Flüchtlinge in Sammelunterkünften wie auch jene in den weltweit größten Freiluftgefängnissen auf den ägäischen Inseln; Alte, an Leib und Seele Gebrechliche in Pflegeheimen, Insassen der Gefängnisse und auch Menschen in Einrichtungen der Behindertenhilfe – die institutionelle Unterbringung ist über Monate hinweg deutlich infektiöser gewesen. Andere haben gar keine Unterkunft: Wohnsitzlose, ob in Bochum in der Bahnhofsunterführung oder in Köln in Gruppen am Bahnhofshinterausgang, um nur zwei jener virologischen Gefährdungspunkte zu nennen. Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Wohnungslosenhilfe schätzt ihre Zahl für 2018 inklusive der geflüchteten Wohnsitzlosen auf 680.000, eine kaum thematisierte Minderheit derer, die démuni, also beraubt sind um diese präventive Möglichkeit, sich in virenfreien Privatquartieren aufzuhalten. 

 

Ein weiterer Aspekt: Was heißt nun Normalität? Offensichtlich ist die Zielperspektive des angestrebten Normalzustandes das Zurück zum Ausgangspunkt einer präpandemischen Realität. Das Leiden unter der Krise spricht jener Normalität utopische Qualität zu, sie ist ein Noch-nicht-Ort (U-topos), der aber doch, sehnsüchtig erwartet, in verheißungsvolle Nähe zu rücken scheint. Damit gewinnt diese Normalität selbst eine immunologische Eigenschaft, sie wird immun gegen Kritik. Wenn aber die Normalität von morgen die durch Überwindung der Pandemie erreichte Wiederherstellung der präpandemischen Normalität von gestern sein soll, so ist der Blick kritisch auf diesen Normalzustand als Ausgangspunkt und Zielperspektive zu richten. Denn schon vor Corona ist die Armutsrisikogruppe derer, die unter 60 Prozent des mittleren Einkommens liegen und in ihrer Existenz gefährdet sind, auf fast 16 Prozent angestiegen. Die Zahl der Wohnsitzlosen ist ebenso gewachsen wie auch das Maß an perverser Perfektion der Abschottung von Flüchtlingen. Das Wirtschaftswachstum als Wohlstandsindikator feiert gerade unter den Defizitanzeigen pandemischer Rezession eine messianische Anbetung. Man muss sich nur die postpandemischen Hoffnungsszenarien der Reise-, Automobil- und Flugindustrie über die Überbietung präpandemischer Umsatzzahlen vor Augen führen, um zu ahnen, wie groß das Maß der Verdrängung klimatischer Kollateralschäden sein wird. Wenn also Normalität in diesem sozialen und ökologischen Sinne die Wiederherstellung präpandemischer Zustände meint, dann greift wohl der Satz von Walter Benjamin: „Daß es ‚so weiter‘ geht, ist die Katastrophe.“ 

 

(Kurzfassung wurde veröffentlicht in: Amos 54. Jahrgang 2-2021, S. 18)